4. Zielgruppenorientierung – heterogene Adressat*innen

Tags: Zielgruppenanalyse, Heterogenität, Diversität, Selbstreflexion, Positionierung, Situativität, Identifikation, Materialgestaltung

Podcast mit Laura Hinzen und Jessica Hackenbroch von KryptoKids und der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW (Köln)

Starke Held*innen, starke Kinder: Extremismusprävention und Demokratiebildung

Hier finden Sie das Transkript zum Audiobeitrag

Die Konzeption und Entwicklung geeigneter Materialien GEGEN HASS IM NETZ hängt in hohem Maße von der Eignung für die intendierte Zielgruppe des Bildungsangebotes ab. Von besonderer qualitätssichernder Wirkung ist dabei ein echtes Kennenlernen also die Begegnung auf Augenhöhe, die im Projekt selbst eingebettet sein kann, bestenfalls jedoch als unabhängige vorangegangene Lernreise der Fachkräfte und verantwortlichen Lernbegleiter*innen passiert ist. 

Die Zielgruppe in einem umfassenden Sinne zu kennen und ihr gleichberechtigt begegnen zu können, ist die Voraussetzung für die richtige Ansprache in Tonalität, Wortwahl und Bildgestaltung sowie die Wahl der medialen und methodischen Umgebung. Um zielgruppenorientierte Bildungsangebote zu entwickeln, sollten Fachkräfte ihre Zielgruppe im Vorfeld definieren und gut kennen. Ein erster Schritt in diesem Prozess bedeutet, sich einen Überblick über Altersstufe, Milieu, Herkünfte, Wissensstände und Lernlevel zu verschaffen. Hier können Hospitationen in ähnlichen Bildungsangeboten mit der Zielgruppe und der Austausch mit Kolleg*innen relevant sein, die bereits die entsprechenden Zielgruppenerfahrungen mitbringen. Von besonderer Bedeutung sind partizipative Prozesse und die Zusammenarbeit mit der Zielgruppe bereits in Konzeptions- und Entwicklungsprozessen. Anschlussmöglichkeiten bieten (in seltenen Fällen) die Zusammensetzung von Projektteams, Beiratsmodelle, in denen die Zielgruppe repräsentiert ist, sowie frühe Playtests, im Sinne praktischer Testphasen. Solche strukturell im Entwicklungsprozess festgeschriebenen Momente für Zwischenevaluation und Auswertung etwa in Form von Interviews, Fragebögen oder andere Feedbacktools sind für eine gelungene Zielgruppenorientierung von Projekten GEGEN HASS IM NETZ gerade bei der Erschließung neuer Zielgruppen oder der Bezugnahme auf neue Hassphänomene, zentral. Einen besonderen Stellenwert nehmen in dieser Hinsicht konkrete partizipative Verfahren ein, wenn es also gelingt, Bildungsinnovation mit partizipatorischen Möglichkeiten zu verknüpfen, Jugendbeteiligung bereits im Entwicklungsprozess zu verankern und hierdurch gemeinsam ein Bildungsangebot zu realisieren.

Herausforderungen, Spannungsfelder und Handlungsempfehlungen

Das Vertrauen auf die eigene Erfahrung mit der Zielgruppe und der Wille, mit aller Offenheit Angebote GEGEN HASS IM NETZ zu entwickeln und durchzuführen, sind gute Voraussetzungen, sollten aber, je nach Schwerpunktsetzung, von Fachkräften, die sich hier und auch in anderen Bildungsangeboten engagieren durch gezielte Auseinandersetzung mit der Verankerung bspw. antisemitischer, antimuslimischer und anderer rassistischer Diskurse in unserer Gesellschaft sowie die Maßnahmen der Weiterbildung/Persönlichkeitsentwicklung in Bereichen wie Anti-Bias-Training, „Kritisches Weiß-sein, „Kritische Männlichkeit“, „post-koloniale Bildungsarbeit“ und Ähnlichem ergänzt werden. Hochwertige Materialien und Projektdokumentationen sollten entsprechende Hinweise und Orientierungshilfen enthalten.

Auch bei kollegialer Beratung sollte der Gefahr von unreflektierter Einordnung und der damit verbundenen Reproduktion struktureller Diskriminierungen wie rassistische Zuschreibungen, Herabwürdigungen oder Generalisierungen mit einer proaktiven kritischen Auseinandersetzung mit der Verankerung in eigenen Privilegien und Perspektiven begegnet werden. Gerade in einer solchen Projektarbeit GEGEN HASS IM NETZ, bei der die Zielgruppe als von struktureller Diskriminierung betroffen gekennzeichnet sein kann, sind solche Maßnahmen Voraussetzung für das Gelingen. Ein reines “Briefing“ durch Kolleg*innen reicht hier nicht aus.

Zielgruppen und ihre Lebenswelten lediglich sozialstatistisch zu kennen, kann dem pädagogischen Erfordernis entgegenstehen, offen für individuelle Sichtweisen, Überraschungen, spezifischen Lebens- und Bewältigungslagen jenseits von gesellschaftlichen oder organisationalen Stigmatisierungen zu sein. Auch der Umgang mit multiplen Heterogenitätsdimensionen – etwa mit unterschiedlichen Formen von Betroffenheit oder Täter*innenschaft von Hass im Netz, sich unterscheidenden Weisen der Medien- und Plattformnutzung, heterogenem Vorwissen oder unterschiedlichen politischen Haltungen innerhalb der Zielgruppen – kann herausfordernd sein. Neben den oben beschriebenen partizipatorischen Verfahren in der Entwicklung von Angeboten, sind es vor allem die vorausschauende Vorbereitung und die sorgfältige Auseinandersetzung seitens der durchführenden Fachkräfte in der Praxis, die hier im Fokus stehen. Begleitmaterialien, Weiterbildungen und Trainings sollten es ermöglichen, sich einerseits auf die Zielgruppe einzustellen, andererseits die eigene Einstellung ihr gegenüber zu überprüfen und sich in Offenheit und Flexibilität zu üben. Methodisch sind etwa Rollenspiele mit Bezug zu pädagogischen Situationen, Erwartungsabfragen oder Szenario-Übungen sinnvoll.

Leitfragen

  • Ist das Thema für die Zielgruppe relevant?
  • Wie genau ist die Zielgruppe eingrenzbar, was z. B. Alter, Geschlecht, Bildung, sozialen und kulturellen Hintergrund, politische Einstellungen, Lebensstil, Wohnort, Einkommen und Konsumverhalten angeht? Inwiefern sind äußere bzw. „objektive“ Merkmale handlungsrelevant?
  • Wie groß ist die Zielgruppe: Ist sie geschlossen und lokal eingrenzbar oder ist sie offen und potenziell möglichst groß?

Ein Bildungsprozess wird durch Identifikation gestützt und gestärkt. Die Frage bei der Gestaltung von Projekten GEGEN HASS IM NETZ muss daher lauten, ob sich ein Projekt oder eine Methode an der Lebenswelt der Zielgruppe orientiert und von dieser als relevant betrachtet wird, also ob sich die Teilnehmenden mit dem Bildungsangebot insgesamt, bezogen auf Thematik, Methodik, vorab kommunizierte Einstiegsfragen, aber auch “Look and Feel” identifizieren können. Zudem hängt Identifikation eng mit guten Rahmenbedingungen zusammen, mit pädagogischen Fachkräften als Identifikationsanker, mit Partizipationsmöglichkeiten, einem Gefühl der Wertschätzung und generell einem inklusiven Lernsetting, das Barrieren niedrig hält.

Für die Zielgruppenorientierung bei der Entwicklung von Projekten GEGEN HASS IM NETZ müssen neben Bildungsauftrag und gesellschaftlich geforderten Lernzielen zwei zentrale Leitlinien immer im Blick behalten werden: (Auf welche Weise) ist das Thema für die Zielgruppe relevant? Und: Können die eigenen Interessen und Persönlichkeiten der Teilnehmenden ausreichend eingebracht werden? Je mehr Eigenes eingebracht werden kann, desto mehr Identifikation wird ermöglicht, desto größer sind Motivation und Lernerfolg und die tiefe Verankerung der vermittelten Inhalte im Sinne von Handlungsorientierung, verändertem Verhalten und der Ausbildung ausgewiesener Kompetenzen, um sich proaktiv gegen Hass im Netz zu engagieren.

Zielgruppenorientierung bedeutet neben einer sachkundigen Analyse von Zielgruppen immer auch das Anerkennen von individuellen Bedarfen und Lernpräferenzen. Wenn die Diversität einer jeden Zielgruppe anerkannt, als Inklusivität im Vorfeld mitgedacht und durch konkrete Maßnahmen eingelöst wird, kann eine gute Lernatmosphäre geschaffen werden und können Lernprozesse auch mit Blick auf Faktoren wie „wohl und sicher fühlen“ gelingen.

Ansprache, Methodendesign, Außenkommunikation, Bildsprache und Illustration sowie eingeschriebene Narrative von Materialien und Ansätzen GEGEN HASS IM NETZ haben Auswirkungen auf den Verlauf, die erfolgreiche Durchführung und Wirkung des Bildungsangebotes. Wenn Materialien und Methoden in ihren (Bild-)Sprachen, ihren Narrativen und Usability-Designs vielfältige gesellschaftliche Strukturen und nicht nur privilegierte Positionen und Sichtweisen abbilden, z. B. mit der (im öffentlichen Raum mehrheitlich gelesenen) Darstellung von Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, Kompetenzen und Religionen, so ist die Chance auf Identifikation aller mit dem Material höher. Bei Bildwahl und -sprache der Materialien sollte daher darauf geachtet werden, dass nicht nur einseitig z. B. gesellschaftlich privilegierte Positionen zu sehen sind bzw. zu Wort kommen und dadurch Sichtweisen eingeschriebener, ungleich verteilter Machtverhältnisse reproduziert werden. Zudem sollten Materialien möglichst barrierearm gestaltet sein.

Sofern möglich, sind Fachkräfte vorzuziehen, die Teilnehmenden eine gewisse Identifikation ermöglichen. Es ist empfehlenswert, als Fachkraft reflexiv und transparent mit der eigenen gesellschaftlichen Positionierung, mit eigenen Privilegien und Erfahrungshorizonten umzugehen.

Herausforderungen, Spannungsfelder und Handlungsempfehlungen

Material barrierearm zu gestalten, wird oftmals durch begrenzte Ressourcen und ein unbekanntes Adressat*innenspektrum und ihre konkrete Bedarfe erschwert. Abhilfe schaffen können hier feste Ansprechpartner*innen, Bedarfsabfragen und -analysen, Feedbackmöglichkeiten und eine diversitätssensible Ansprache, um Einstiegsbarrieren so gering wie möglich zu halten.

Die Repräsentation von Menschen mit diversen Diskriminierungserfahrungen als pädagogische Fachkräfte ist wichtig. Gleichzeitig ist es keineswegs alleine die Aufgabe potenziell oder faktisch betroffener Personen, Diskriminierung und Hassrede pädagogisch zu thematisieren und zu bearbeiten. Freiwilligkeit und Deutungshoheit über die eigene Positionierung und Sprechfähigkeit sind zentrale Leitlinien auch für Ansprache und Kommunikation in Materialien und Projektorganisation. Dies gilt für pädagogische Fachkräfte und in der Folge auch für Adressat*innen.

Leitfragen

  • Wo ist die Zielgruppe erreichbar? Sind gewählte Kommunikationskanäle und Plattformen für die Zielgruppe angebracht bzw. angepasst?
  • Inwiefern werden Lebensweltorientierung und Ansprache bei der Zielgruppenorientierung berücksichtigt?
  • Kann sich die Zielgruppe mit der Ansprache des Materials/der Methode identifizieren? Passen Form, Inhalt und Sprache zu der Zielgruppe? Ist eine ästhetisch-inhaltliche Auseinandersetzung im Projekt angebracht?
  • Können potenzielle Barrieren für die Teilnahme der Zielgruppe minimiert werden, z. B. was Sprache, visuelle Elemente oder Untertitel angeht?
  • Spricht das Material meine Zielgruppe an, ohne gleichzeitig bestehende Vorurteile und Stereotypen zu reproduzieren?

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