Die vorliegende Bedarfsanalyse untersucht, wie Betroffene bzw. die sie vertretenden Organisationen Hass im Netz erfahren, wie sich dieser auswirkt und wie sie damit umgehen. Zudem wurden die Verantwortungsträger*innen und gelingende Handlungsansätze im Engagement gegen Hass im Netz identifiziert. Zentrale Aufmerksamkeit erhielt der Bereich der Bildung und Medienbildung und, damit verbunden, die Berücksichtigung von Betroffenenperspektiven in der Bildungsarbeit.
Mittels des leitfadengestützten Expert*inneninterviews wurden acht Personen aus weitestgehend bundesweit tätigen Organisationen befragt, die die Perspektive aus verschiedenen Communities repräsentierten. Die Auswertung orientierte sich am Vorgehen der qualitativen Inhaltsanalyse und wurde softwarebasiert durchgeführt. Für die Beantwortung der Forschungsfragen wurden Schlüsselkategorien gebildet, unter denen die Ergebnisse zusammengefasst werden.
Die komplette Studie ist hier abrufbar.
Kernergebnisse
1. Erfahrungen mit und Auswirkungen von Hass im Netz
Das geht hin zu expliziten Todes- und Bombendrohungen und Aufrufen, uns anzugreifen als Mitarbeitende, aber auch die Institutionen anzugreifen, der Institution die Gelder zu entziehen (und) unschöne Pakete zu schicken“ (Interview VII).
Alle Interviewpartner*innen aus den acht befragten Communities berichteten von Erfahrungen mit Hass im Netz. In fast allen Aussagen finden sich Hinweise auf die intersektionale Dimension. Frauen bzw. sich als weiblich verstehende Personen in Kombination mit anderen Merkmalen scheinen nach Einschätzung der Interviewten besonders häufig betroffen zu sein.
„Was man beim Thema Hass im Netz und generell dem Einsatz für Zivilgesellschaft, für Demokratie sagen muss, (ist), (…) wenn beispielsweise eine Frau zu Themen wie Demokratie, Einsatz für Zivilgesellschaft, Einsatz für eine plurale Gesellschaft spricht, ist sie auch noch einmal mehr von Anfeindungen, einem negativen Backlash betroffen“ (Interview VII).
Junge Menschen erfahren Hass im Netz sowohl von Gleichaltrigen als auch von Erwachsenen, die aus ihren privilegierten Machtpositionen heraus abwertend über sie sprechen und medial berichten.
„Jugendliche leiden auch sehr, sehr stark unter dem, was in der Presse geschrieben wird, weil die das zuordnen können, WER spricht da jetzt eigentlich WIE für eine große Gruppe? (…) Also zum Beispiel eine bestimmte Darstellung von Islam in der Presse“ (Interview VI).
Schule biete nur selten Möglichkeiten, sich mit den individuellen und kollektiven Diskriminierungserfahrungen innerhalb und außerhalb des Schulkontextes auseinanderzusetzen oder empowernde Wege im Umgang damit zu finden.
Die Interviewpartner*innen nehmen eine Zunahme von Hass im Netz wahr. Auffällig für die Befragten sei, dass sie bzw. ihre Organisationen, je häufiger und offensiver sich diese Gruppen medial äußern, umso stärker zur Zielscheibe von Hass im Netz werden.
An allen Stellen in unserer Gesellschaft und Politik gibt es extrem große Hürden für Betroffene und/oder eben Dynamiken, die sogar Gewalt und auch Hass noch bestärken. Und (…) durch diesen digitalen Raum gibt es eigentlich nur noch eine Ausweitung von bestehenden Gewaltdynamiken“ (Interview I).
„Je sichtbarer wir werden, desto mehr erleben wir auch negative Reaktionen“ (Interview II).
Diskriminierung, Abwertung und Hass in all seinen Formen seien jedoch kein Ausdruck extremer Ränder, sondern gehen von allen gesellschaftlichen Schichten aus. Menschen mit Behinderungen müssen neben Ableismus auch mit Hassrede aus dem medizinischen Bereich rechnen.
„Im Beruflichen betreue ich den X Account für zwei Projekte und bekomme durchaus mit, dass es viel rechte Hetze gibt. Aber auch viel Sexismus und Ableismus“ (Interview V).
Als wesentliche Ursachen für den Hass – online wie offline – werden von den Interviewten ein Mangel an Sensibilität, die Abwesenheit von Empathie und fehlendes Wissen über die realen Auswirkungen für die Betroffenen vermutet.
Auswirkungen von Hass im Netz zeigen sich im Rückzug aus dem (digitalen) sozialen Leben, in psychischen und physischen Erkrankungen oder in der Bedrohung sozialer und beruflicher Existenzen.
„Das hat ganz unterschiedliche Auswirkungen, von Isolation im Sozialgefüge (…) bis hin zu irgendwelchen psychischen Erkrankungen, Depressionen etc. bis hin zu Suizidgedanken“ (Interview IV).
Sie betreffen zum Teil auch Menschen im nahen Umfeld der unmittelbar Betroffenen. Der Rückzug gerade marginalisierter und diskriminierter Personen und Personengruppen aus öffentlichen digitalen Räumen kann weitreichende negative Folgen für eine demokratische Gesellschaft als Ganze bezüglich ihrer Offenheit, Pluralität und Diversität haben.
2. Herausforderungen im Umgang mit und Engagement gegen Hass im Netz
(…) also vor der Herausforderung stehen wir dann immer wieder, dass uns Jugendliche sagen: ‚aber ist doch normal, ist doch da überall‘“ (Interview VI).
Als große Herausforderung für den Bildungsbereich wurden drei wesentliche Punkte benannt: Junge Menschen sind von Hass um Netz betroffen; gleichzeitig beteiligen sie sich an Hass im Netz, ohne sich dessen stets bewusst zu sein. Ein weiterer Punkt ist der fehlende adäquate Einbezug der Betroffenenperspektive sowie das Risiko, beispielsweise durch Positionierungs- oder Rollenspiele und durch die Verwendung rassistischer Abbildungen oder Aussagen menschenverachtende Einstellungen zu reproduzieren und damit Betroffene (erneut) zu verletzen. Auch rassistisch konnotierte Schlagzeilen oder Bildsprache in etablierten Medien würden polemisieren und Hasskommentare provozieren.
„Ich würde sagen, beim Thema Antisemitismus und Rassismus muss die Balance gefunden werden von: Man möchte Jugendlichen erklären, wie Bilder, wie Stereotype funktionieren, aber man möchte, vor allem wenn man so kurzfristig in der Klasse arbeitet, mit so einem Bild auch nicht dazu beitragen, die Ansichten der Jugendlichen noch zu befeuern“ (Interview VI).
Zudem verweisen die Befragten auf die Zweischneidigkeit in Bezug auf Social-Media: Einerseits werden Social-Media-Plattformen als „Hassbeschleuniger“ und als zentraler Schauplatz des Problems wahrgenommen. Andererseits bieten sie teils einzigartige Möglichkeiten für Identitätssuche, Empowerment und Schutz.
Eine weitere Herausforderung bestehe darin, die Plattformbetreibenden von der wachsenden Problematik für die Betroffenen und die Gesellschaft als Ganze zu überzeugen.
Nicht zuletzt werden die von der Politik geschaffenen unsicheren Arbeitsbedingungen und zeitlich befristete Projektlogiken als Hürde im Engagement gegen Hass im Netz markiert. Probleme wie knappe zeitliche und personelle Ressourcen erschweren ein langfristiges und stabiles Engagement gegen menschenverachtende Einstellungen.
3. Bildung, Good Practice und der Einbezug der Betroffenenperspektiven
Wir gehen davon aus, dass je früher man über diverse Lebensrealitäten lernt, sie auch schätzen lernt und diese Berührungsangst verliert und einfach als selbstverständlichen Teil unserer Gesellschaft wahrnimmt, desto weniger verfestigen sich dann eben auch Haltungen, die eben eine Hierarchisierung zwischen verschiedenen Menschengruppen fordern oder legitimieren“ (Interview III).
Für den Bildungsbereich plädieren die befragten Organisationen für einen intensiveren Austausch mit den von Hass im Netz betroffenen Communities und den Einbezug ihrer Perspektiven bei der Entwicklung, Planung und Umsetzung von Bildungsformaten und -materialien. Es komme darauf an, die Sichtweisen und Erfahrungen authentisch und zudem nicht als Einzel- oder Extremfall abzubilden.
„Wir sind ja als Selbstvertretung der Menschen mit Behinderungen auf dem Standpunkt, dass niemand so gut über Menschen mit Behinderung reden kann, wie Menschen mit Behinderung selbst (…) ich glaube, am besten wäre es, wenn die Materialien von den Menschen mit Behinderung selbst erstellt werden“ (Interview V).
Zu bewährten Umgangsstrategien zählen u.a. dem Problem mit Humor zu begegnen, Netzwerkarbeit unter den Betroffenen und Nicht-Betroffenen zu fördern und fachliche Unterstützung anzubieten, z.B. mittels Supervision, Intervision, ratgebenden Materialien und Trainings. In konkreten Fällen wünschen sich die Interviewten Kameratrainings, Empowermentkurse und Verweisberatung an zuständige Stellen.
„Ich hatte überlegt, dass unser Vorstand mal ein Kameratraining als prophylaktische Schulung machen sollte (…), (denn) Romn:ja stehen halt am stärksten in der Öffentlichkeit und sind (…) aber als Marginalisierte noch mehr von Hass betroffen, als ich zum Beispiel“ (Interview II).
In der medienpädagogischen Bildungsarbeit komme es darauf an, die richtige Balance zwischen Schutz- und Empowermentansätzen herzustellen. Medien können genutzt werden, um sich kreativ mit dem Erlebten sowie kritisch mit Machtverhältnissen, Lebensrealitäten und sozialen Ungleichheiten auseinanderzusetzen. Die pädagogische Praxis muss sich nicht zuletzt der Frage stellen, wie Schule und andere Lebens- und Lernorte für junge Menschen stärker als bisher zu demokratiefördernden und damit zu diskriminierungssensiblen Räumen werden könnten. Als Good-Practice-Ansätze mit jungen Menschen werden u.a. der peer-to-peer-Ansatz, reflexive Videorunden oder die Nutzung von Medien im Bereich der politischen Beteiligung genannt.
4. Gesamtgesellschaftliche Bedarfe und Verantwortung im Engagement gegen Hass im Netz
Die Erfahrungen der Betroffenen bzw. der sie vertretenden Organisationen seien ebenso für das Zusammenspiel zwischen allen Akteur*innen richtungsweisend, um die Effektivität der Maßnahmen zu verbessern und das Risiko paternalistischer Vorgehensweisen und die Reproduktion von Diskriminierung zu verhindern. Dies gilt für die Politik und ihre Institutionen und Verwaltung und ebenso für Akteur*innen in Justiz, Bildung und Medien.
Wenn man dann die Institutionen dazu holt, die gegebenenfalls dafür zuständig wären, wie die Polizei, wie die Justiz, Gerichte usw., dann merkt man aber, dass die (scheinbar) nicht daran interessiert sind oder ob sie auch nicht die Möglichkeiten sehen, tatsächlich effektiv etwas dagegen zu unternehmen“ (Interview I).
„Ich glaube, dass die Medien da auch Verantwortung tragen, (d.h.) wie man berichtet und bebildert und wie dann darauf reagiert (wird). Im Kern, wenn das wording so schwerwiegend und aggressiv wird bei einem Thema, wo es z.B. um Geflüchtete geht und das Bild den Menschen irgendwie auch ihre Identität nimmt“ (Interview VIII).
„Wenn eine Plakatkampagne zur Diskriminierung bei Ableismus gefahren wird und dann irgendein Able-Model in irgendeinen dahergelaufenen Rollstuhl gesetzt wird, ist das nicht authentisch. Das heißt, ich persönlich würde mir zumindest für die Kampagnenarbeit auch echte Models wünschen, damit das Ganze wirklich glaubhaft ist“ (Interview V).
Plattformbetreiber*innen seien in der Verantwortung, sich mehr um die Sicherheit ihrer User*innen zu bemühen, sich mehr für den Schutz der Menschenwürde und die Aufrechterhaltung eines offenen und diversen Diskurses einzusetzen.
Wir sehen auf jeden Fall auch die Plattform in der Verantwortung, aktiv gegen Diskriminierung (vorzugehen)“ (Interview III).
„Was würde ich mir vom Kompetenz-Netzwerk-Hass im Netz wünschen? (…) tatsächlich auch gezielt mit den Plattformen zu arbeiten“ (Organisation VI).
Politische Entscheidungsträger*innen seien in der Verantwortung, für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Arbeit gegen Hass im Netz und für die (politische) Bildungsarbeit zu sorgen. Demokratieförderung sei als permanent notwendige Arbeit für die ganze Gesellschaft zu begreifen und dementsprechend dauerhaft mittels Regelfinanzierung zu sichern.
Ich würde mir nur wünschen, wenn das irgendwie auch öffentlich gefördert ist, weil das im generellen öffentlichen Interesse liegt. Am Ende (sehe ich) die Politik dafür verantwortlich, dass sie viel, viel mehr darauf achtet, dass auch sie dieses Phänomen bekämpft und sie eben entsprechende Mittel dafür zu Verfügung zu stellen“ (Interview I).
„(…) für die Rahmenbedingungen für politische Bildung und Extremismusprävention wäre es natürlich toll, wenn da die Regelfinanzierung kommt“ (Interview VI).
Autorin: Antje Bretschneider